Teil II – Wann können Einzelne Schutz im Rahmen der Charta beanspruchen?

Wann kann eine Privatperson gemäß der Charta Schutz suchen?

1. Die Schutzberechtigten gemäß der Charta

Seit Inkrafttreten des Maastricht-Vertrages 1993 ist jede Person, die die Nationalität eines EU-Mitgliedsstaates besitzt, automatisch Unionsbürger(in). Die Unionsbürgerschaft besteht zusätzlich zur Staatsangehörigkeit und verleiht eine Reihe von Rechten, darunter das Recht, im Geltungsbereich des Vertrages nicht aufgrund der Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden und das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Wohnsitzes innerhalb der EU, gemäß den Bestimmungen des Unionsrechts. Weitere Informationen zu den mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechten und deren Wahrnehmung finden Sie hier.

Es ist zu betonen, dass nicht nur Unionsbürger(innen) den Schutz der Charta genießen: Auch Angehörige von Drittstaaten und Staatenlose können diesen nutzen. Auch juristische Personen genießen den Schutz einiger Grundrechte gemäß der Charta: siehe dazu Kapitel 1.1.

Nur einige wenige Grundrechte der Charta gelten ausschließlich für Unionsbürger, insbesondere:

  • die Berufsfreiheit und das Recht zu arbeiten (Artikel 15 Absatz 1);
  • die unternehmerische Freiheit (Artikel 16);
  • das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei Kommunalwahlen (Artikel 38 und 40);
  • das Recht, sich innerhalb der EU frei zu bewegen und aufzuhalten (Artikel 45);
  • das Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Stellen eines jeden EU-Mitgliedstaats (Artikel 46).

Ferner sei darauf hingewiesen, dass der EuGH bisher nur Unionsbürgern den Schutz des Rechtes auf Nichtdiskriminierung nach Staatsangehörigkeit im Anwendungsbereich der Verträge gewährt hat, das durch Artikel 18 AEUV und nunmehr auch durch Artikel 21 Absatz 2 der Charta gewährleistet ist.

Die meisten in der Charta niedergelegten Grundrechte können jedoch sowohl von Unionsbürgern als auch von Drittstaatsangehörigen wahrgenommen werden. Entscheidend ist dabei, ob die mutmaßliche Verletzung der Grundrechte der EU selbst oder einem Mitgliedsstaat „bei der Umsetzung des Unionsrechts“ anzulasten ist. Kapitel 3 bietet diesbezüglich Hilfestellung.

1.1 Juristische Personen als Schutzberechtigte gemäß der Charta

Einige Bestimmungen der Charta zählen „jede [...] juristische Person mit [...] satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat“ ausdrücklich zu den Begünstigten der von ihnen garantierten Rechte, darunter insbesondere:

  • das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union (Artikel 42);
  • das Recht, den Europäischen Bürgerbeauftragten im Falle von „Missständen“ bei der Tätigkeit der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU zu befassen (Artikel 43);
  • das Recht, eine Petition an das Europäische Parlament zu richten (Artikel 44).

Die meisten Bestimmungen der Charta enthalten jedoch keinen solchen Hinweis.

Einige scheinen grundsätzlich auf natürliche Personen beschränkt zu sein: Artikel 1 (Würde des Menschen), Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 3 (Recht auf Unversehrtheit), Artikel 4 (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung), Artikel 5 (Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit), Artikel 9 (Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen), Artikel 18 (Asylrecht), Artikel 19 (Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung), Artikel 23 (Gleichheit von Männern und Frauen), Artikel 24 (Rechte des Kindes), Artikel 25 (Rechte älterer Menschen), Artikel 26 (Integration von Menschen mit Behinderung), Artikel 29 (Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst), Artikel 30 (Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung), Artikel 31 (Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen), Artikel 32 (Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz), Artikel 33 (Familien- und Berufsleben), Artikel 34 (Soziale Sicherheit und soziale Unterstützung), Artikel 39 (Aktives und passives Wahlrecht bei den Wahlen zum europäischen Parlament), Artikel 40 (Aktives und passives Wahlrecht bei den Kommunalwahlen), Artikel 45 (Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit), Artikel 46 (Diplomatischer und konsularischer Schutz).

Hingegen können juristische Personen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs einige weitere Bestimmungen der Charta in Anspruch nehmen, in denen sie nicht ausdrücklich als Begünstigte erwähnt werden, und zwar Artikel 7 und 8 über die Achtung des Privat-und Familienlebens und über den Schutz personenbezogener Daten (siehe Urteil C-92/09 Volker und Markus Schecke), und Artikel 47 Absatz 3 über Prozesskostenhilfe (siehe Urteil C-279/09 DEB). Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zeigt jedoch auch, dass der Schutz, der juristischen Personen gewährt wird, sich in Bezug auf Reichweite und Niveau vom Schutz natürlicher Personen unterscheiden kann.

Die übrigen Bestimmungen liegen in einer Grauzone. Wenn eine Rechtssache, die eine dieser Bestimmungen betrifft, in irgendeiner Weise in den Anwendungsbereich der Charta fällt, könnte es angebracht sein, den Gerichtshof anzurufen, um zu klären, ob juristische Personen zu den Begünstigten der in dieser Bestimmung festgelegten Rechte gehören.

Im Zuge seiner Beurteilung wird der EuGH die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berücksichtigen müssen, wenn die jeweilige Bestimmung der Charta als einschlägiges Recht im Sinne von Artikel 52 Absatz 3 der Charta ausgelegt werden kann (siehe Kapitel 5 und 5.1 Teil III und die vorstehend genannten Urteile Schecke und DEB).

2. Zur Einhaltung der Charta verpflichtete Stellen

Gemäß Artikel 51 Absatz 1 gilt die Charta verbindlich für:

  • die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union;
  • die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des EU-Rechts.

Jedes Organ, jede Einrichtung und jede sonstige Stelle der EU sowie ihre Bediensteten in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit sind zur Einhaltung der Charta verpflichtet.

Sie müssen die Charta bei der Verabschiedung und Anwendung von Unionsrechtsakten sowie allgemein bei der Ausübung der Befugnisse und Aufgaben achten, die ihnen durch die EU-Verträge übertragen wurden (EUV und AEUV).

Mögliche Beispiele für Verletzungen der Grundrechte durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der EU oder deren Bedienstete sind insbesondere:

  • die Verabschiedung eines Rechtsakts (zum Beispiel einer EU-Richtlinie oder Verordnung), der keine angemessenen Schutzmaßnahmen in Bezug auf die Verarbeitung personenbezogener Daten enthält;
  • die Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten;
  • eine Ermittlung durch Kommissionsbeamte zur Feststellung eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsvorschriften, in deren Rahmen gegen das Recht auf Achtung des Privatlebens verstoßen wird.

Es sei darauf hingewiesen, dass die Charta auch dann für Einrichtungen, Organe oder sonstige Stellen der EU gilt, wenn diese einen Rechtsakt verabschieden oder anwenden, der auch oder ausschließlich außerhalb der EU Rechtswirkung hat. Auch EU-Bedienstete sind selbst dann an die Charta gebunden, wenn sie ihren Pflichten außerhalb der EU nachkommen, z. B. im Rahmen

  • eines zwischen der EU und den Vereinigten Staaten ausgehandelten völkerrechtlichen Vertrags bezüglich des Austauschs personenbezogener Daten, oder
  • einer Entscheidung des Rates der Europäischen Union, mit der das Einfrieren von Geldmitteln eines irakischen Bürgers oder einer im Irak ansässigen juristischen Person angeordnet wird.

Was den Begriff „Staat“ betrifft, so wird in der Erläuterung zu Artikel 51 Absatz 1 (zu den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte siehe Kapitel 6 Teil III) darauf hingewiesen, dass dieser sowohl „die zentralen Behörden als auch die regionalen oder lokalen Stellen sowie [...] die öffentlichen Einrichtungen, wenn sie das Unionsrecht anwenden” umfasst. Die Charta gilt für den Mitgliedsstaat auch dann, wenn er als Arbeitgeber fungiert.

Außerdem umfasst der Begriff „Staat“ entsprechend der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes auch „eine Einrichtung, die unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsakts unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat und die hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über die für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften hinausgehen“ (siehe Urteil in der Rechtssache C-282/10 Dominguez). Wenn eine solche Einrichtung Unionsrecht umsetzt, ist sie daher ebenso an die Beachtung der Charta gebunden wie jede andere staatliche Stelle.

Gemäß Artikel 51 Absatz 1 ist es bei jedem Verstoß gegen die Grundrechte, der aus einem von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union verabschiedeten Rechtsakt herrührt, möglich, sich auf die Charta zu berufen. Privatpersonen können den durch die Charta gebotenen Schutz jedoch nur im Falle eines durch einen nationalen Rechtsakt zur Anwendung des Unionsrechts entstandenen Verstoßes in Anspruch nehmen.

Dies stellt einen wesentlichen Unterschied zur EMRK und den nationalen Verfassungen dar: Jeder Rechtsakt eines EU-Mitgliedsstaates kann angefochten werden, wenn er gegen die Verfassung eines Staates oder die EMRK verstößt.

Eine Privatperson könnte sich daher fragen, ob es sich wirklich lohnt, zu überprüfen, ob ein mutmaßlicher Verstoß eines nationalen Rechtsaktes gegen die Charta bei der Anwendung des Unionsrechts erfolgte.

Aus der Sicht der schutzsuchenden Einzelperson lohnt sich diese Mühe, da im Falle der Anwendbarkeit der Charta Folgendes gilt:

  • Das Opfer des Verstoßes kann die verschiedenen gerichtlichen und außergerichtlichen Rechtsbehelfe nutzen, die ihm im Rahmen des Unionsrechts zustehen (siehe Kapitel 4 Teil I).
  • Bevor eine Klage über einen Verstoß gegen die EMRK beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (in Straßburg) eingereicht werden kann, müssen alle nationalen Rechtsmittel ausgeschöpft sein (zu dieser Regel und den Einschränkungen ihrer Anwendung siehe Praktischen Leitfaden zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen).
  • Hingegen können die mit dem Fall befassten nationalen Gerichte im ersten Rechtszug ein Ersuchen auf Vorabentscheidung an den Gerichtshof richten (siehe Kapitel 4).
  • Das EU-Recht hat auf nationaler Ebene besondere Wirkungen, durch die dem Opfer eines Grundrechtsverstoßes ein besonders wirksamer Schutz gewährt wird; so ist es die Pflicht des zuständigen Gerichts, staatliche Rechtsakte, die im Widerspruch zur Charta stehen, unangewendet zu lassen, oder diese konform zur Charta auszulegen; hinzu kommt die Zahlung einer Entschädigung durch den betroffenen Mitgliedsstaat.

Aus der Perspektive des Verhältnisses zwischen EU-Recht und nationalem Recht (Rechtsperspektive) ist zu klären, ob das nationale Gesetz Unionsrecht umsetzt: Da das EU-Recht immer Vorrang vor dem nationalen Recht hat, muss Letzteres mit dem Ersteren übereinstimmen.

Im Anwendungsbereich des EU-Rechts ist die Charta daher für den Schutz der Grundrechte maßgebend. Nationale Rechtsquellen zum Schutz der Grundrechte können eine Rolle spielen; ihre Bedeutung hängt jedoch davon ab, wie stark der Zusammenhang zwischen Unionsrecht und den einschlägigen nationalen Bestimmungen im jeweiligen Fall ist (siehe Kapitel 7 Teil III).

2.1 Pflicht zur Einhaltung der Charta durch Privatpersonen

Privatpersonen genießen den Schutz der Charta. Unter den zur Einhaltung der Charta verpflichteten Rechtssubjekten werden sie jedoch nicht genannt.

Dies bedeutet allerdings nicht, dass Privatpersonen in keinem Fall zur Einhaltung der Charta verpflichtet sind.

Laut EuGH kann eine Bestimmung der Charta, die „schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann“, herangezogen werden, um auch in Verfahren gegen Privatpersonen dafür zu plädieren, nicht konforme nationale Bestimmung unangewendet zu lassen (siehe Urteil in der Rechtssache C-176/12 Association de médiation sociale, Rn. 47).

Betrachten Sie diesbezüglich folgendes Beispiel (auf der Grundlage der Rechtssache C-555/07 Kücükdeveci). Herr A ist ein privater Arbeitgeber und Frau B ist seine Angestellte. Frau B erhält ein Entlassungsschreiben mit einmonatiger Kündigungsfrist. Dies entspricht den geltenden nationalen Bestimmungen, nach denen die Kündigungsfrist einen Monat beträgt, wenn das Beschäftigungsverhältnis nicht länger als zwei Jahre bestand, wobei Beschäftigungszeiten vor Vollendung des 25. Lebensjahres nicht berücksichtigt werden. Laut Frau B, die seit dem Alter von 18 Jahren beschäftigt war, stellt diese Regelung eine Altersdiskriminierung dar. Sie klagt daher vor dem zuständigen nationalen Gericht gegen ihren Arbeitgeber. Das Gericht befindet, dass die nationalen Bestimmungen, die mutmaßlich eine Altersdiskriminierung darstellen, Unionsrecht umsetzen, da sie die Entlassungsmodalitäten regeln, die in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG fallen, die den allgemeinen Rahmen für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf festlegt. Der EuGH bestätigt, dass die betreffenden nationalen Bestimmungen Unionsrecht umsetzen, und befindet, dass Artikel 21 Absatz 1 der Charta, der die Diskriminierung auf der Grundlage – unter anderem – des Alters verbietet, direkt geltend gemacht werden kann, um die Anwendung einer nicht konformen nationalen Bestimmung auch in Verfahren, in denen sich Privatpersonen gegenüberstehen, auszuschließen. Laut EuGH stellen die in diesem Fall streitigen nationalen Bestimmungen eine Diskriminierung aus Altersgründen dar und dürfen daher vom nationalen Gericht nicht auf Frau B angewendet werden.

Mit anderen Worten: Obwohl es alleinige Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, dafür zu sorgen, dass ihre Bestimmungen im Einklang mit der Charta stehen, kann die Nichteinhaltung dieser Anforderung durch einen Mitgliedstaat zu einer direkten Anwendung der Bestimmungen der Charta auf Privatpersonen führen.

Dieses besondere Merkmal der Charta – bekannt als unmittelbare horizontale Wirkung – stellt einen Vorteil gegenüber der EMRK dar, deren Bestimmungen eine solche Wirkung nicht vorsehen.

Die unmittelbare horizontale Wirkung der Charta ist jedoch ein zweischneidiges Schwert: Einerseits stärkt er den Schutz der Grundrechte von Privatpersonen, andererseits können Privatpersonen, die in Übereinstimmung mit dem nationalen Recht gehandelt haben, ihren Prozess verlieren.

Es ist daher sehr wichtig zu wissen, welche Bestimmungen der Charta unmittelbare Wirkung haben. Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie in Kapitel 7 Teil III.

3. Wann setzt ein nationaler Rechtsakt Unionsrecht um?

Laut EuGH setzt ein nationaler Rechtsakt Unionsrecht um, wenn er „in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt“ (siehe Urteil in der Rechtssache C-617/10 Åkerberg Fransson, Rn. 17-23). Demnach ist die Charta ausschließlich auf alle nationalen Rechtsakte anwendbar, die in den Anwendungsbereich des EU-Rechts fallen.

Auf diesen ersten Blick schafft diese zusätzliche, etwas kryptische Formulierung nicht wirklich Klarheit in Bezug auf den eigentlichen Anwendungsbereich der Charta. Trotzdem stützte sich der EuGH vor dem Lissabonner Vertrag auf ebendiese Formulierung, um den Anwendungsbereich der als allgemeine Prinzipien des EU-Rechts zu schützenden Grundrechte festzulegen. Diese Rechtsprechung schaffte Klarheit bezüglich des eigentlichen Sinns hinter der Formulierung „Durchführung/Geltungsbereich des Unionsrechts“. Gemeint ist,

  • dass der Schutz der Charta nicht einfach durch die Behauptung ausgelöst werden kann, die betreffende Rechtssache stelle die Verletzung eines in der Charta enthaltenen Grundrechts durch einen nationalen Rechtsakt dar; vielmehr
  • fällt ein nationaler Rechtsakt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts und damit der Charta, wenn auf den fraglichen Fall eine andere Bestimmung (des primären oder sekundären Unionsrechts) als die mutmaßlich verletzte Bestimmung der Charta anwendbar ist.

Mit anderen Worten muss die Situation, in der der Verstoß erfolgt, durch Unionsrecht geregelt sein. Eine Liste von Rechtssachen, die diese Bedingung erfüllen, finden Sie in Kapitel 2 Teil III.

Außer den Bestimmungen der Charta selbst können andere Bestimmungen des Unionsrecht nicht als Auslöser für den Schutz der Charta herangezogen werden. Insbesondere können die Bestimmungen der Verträge (EUV und AEUV), die der Union Handlungsbefugnisse in bestimmten Bereichen gewähren, nicht allein die Anwendung der Charta auslösen. Wenn jedoch der Unionsgesetzgeber diese Befugnisse zur Verabschiedung von Rechtsakten in einem bestimmten Bereich ausübt, fallen Verstöße gegen die Grundrechte, die im Anwendungsbereich dieser Rechtsakte erfolgen, unter die Charta.

So bietet Artikel 30 beispielsweise Schutz bei einer ungerechtfertigten Entlassung. Die Union verfügt über die rechtlichen Befugnisse, Gesetzesvorschriften zur Regelung von Entlassungen zu verabschieden; bislang hat sie diese Befugnisse jedoch nicht ausgeübt. Die Entscheidung, einen Angestellten zu entlassen, kann daher nicht unter Berufung auf Artikel 30 der Charta angefochten werden, sofern kein anderweitiger Zusammenhang mit dem Unionsrecht besteht (siehe z. B. Urteil in der Rechtssache C-117/14, Poclava.

3.1 Ein praktisches Beispiel

Die folgenden beiden Rechtssachen betreffen nationale Bestimmungen, die juristischen Personen den Zugang zu Prozesskostenhilfe verwehren. Die Charta und insbesondere ihr Artikel 47 Absatz 3 über das Recht auf Prozesskostenhilfe ist allerdings nur in einem der beiden Fälle anwendbar.

Rechtssache ALFA: Alfa, eine im Erdgassektor tätige deutsche Firma will Klage erheben, um die Haftung Deutschlands unter EU-Recht feststellen zu lassen. Nachdem Deutschland zwei EU-Richtlinien über die Vermarktung von Erdgas nicht innerhalb der festgesetzten Frist umgesetzt hatte, erlitt Alfa erhebliche wirtschaftliche Verluste. Da Alfa jedoch weder über Einkünfte noch über Vermögen verfügt, kann die Firma keinen Anwalt bezahlen und beantragt daher Prozesskostenhilfe. Allerdings können nach deutscher Vorschrift nur natürliche Personen Prozesskostenhilfe bekommen. Alfa klagt vor einem deutschen Gericht gegen diese Vorschriften.

Rechtssache BETA: Beta, ein portugiesisches Unternehmen, das im Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen tätig ist, will gegen Omega, ein weiteres in Portugal ansässiges Handelsunternehmen klagen, um einen ausstehenden Betrag für eine in Portugal erbrachte Dienstleistung einzufordern. Beta verfügt allerdings weder über Einkünfte noch über Vermögen und kann daher keinen Rechtsanwalt bezahlen. Die Firma beantragt den Zugang zu Prozesskostenhilfe, jedoch wird der Antrag gemäß den portugiesischen Vorschriften abgelehnt, da nur natürliche Personen einen Anspruch auf Prozesskostenhilfe haben. Beta klagt vor einem portugiesischen Gericht gegen diese Vorschriften.

Alfa kann sich auf den Schutz der Charta berufen, Beta hingegen nicht. Warum?

Die Klage, die Alfa gegen Deutschland erheben will, zielt auf die Durchsetzung eines Rechtsanspruchs ab, der durch das Unionsrecht gewährleistet wird: das Recht auf Entschädigung seitens eines Mitgliedstaates, der gegen seine Verpflichtungen gemäß Unionsrecht verstoßen hat (zum Beispiel die Verpflichtung zur fristgerechten Umsetzung einer EU-Richtlinie). Die Klage ist folglich nicht nur auf den Verstoß gegen eine Bestimmung der Charta beschränkt.

Im Fall BETA hingegen ist außer der Bestimmung der Charta, gegen die mutmaßlich verstoßen wurde, keine weitere Rechtsvorschrift anwendbar. Im Fall der zweiten Rechtsache beschränken sich alle Elemente auf das Staatsgebiet eines einzelnen Mitgliedstaates (weshalb die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr nicht anwendbar sind); die Klage, die Beta erheben will, betrifft keine Situation, die durch das Unionsrecht geregelt würde, und es gibt keine Rechtsvorschriften der EU über den Zugang zu Prozesskostenhilfe vor den nationalen Gerichten.

Die Fälle ALFA und BETA beruhen auf zwei tatsächlich vom EuGH entschiedenen Rechtssachen, der Rechtssache C-279/09 DEB und der Rechtssache C-258/13 Sociedade Agrícola.

4. Wann ist die Charta nicht anwendbar?

Die Charta kann nicht herangezogen werden, um gegen eine aus einem nationalen Rechtsakt, der keine unionsrechtliche Bestimmung umsetzt, herrührende Grundrechtsverletzung zu klagen (siehe Kapitel 2).

Das bedeutet nicht, dass Personen, die gegen eine Verletzung ihrer Grundrechte vorgehen wollen, keinen Schutz genießen. Sie sollten vielmehr, je nach den Umständen, ihre Klage an die nationalen Gerichte oder an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte richten.

Die Frage ist daher nicht, ob es eine Tür gibt, an die sie klopfen können, um Schutz zu suchen, sondern welche Tür die richtige ist.

Die Webseite „Wo finde ich Hilfe?“ bietet Informationen zu den Stellen, an die man sich auf der Suche nach qualifizierter Beratung bezüglich des richtigen Vorgehens wenden kann.

Juristen finden darüber hinaus in Teil III zusätzliche Informationen zum Anwendungsbereich und zu den Rechtswirkungen der Charta.

Letzte Aktualisierung: 13/11/2018

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